Vor etwa einem Jahr begann für mich eine Reise. Eine Reise ins Ungewisse. Eine Reise, die mich anfänglich ängstigte weil ich sie im Schmerznebel erlebte, dann verwirrte, später beglückte und jetzt beflügelt.
Ich freue mich sehr, dass du mich auf dieser jetzigen Wegstrecke in mein ganz neues Leben begleiten wirst!
Lass mich dir vorab erzählen wie es überhaupt dazu kam, dass ich mich jetzt aufmache und meinem neuen Leben entgegen schreite.
Ich bin Amira. Eine Shetty-Stute. Zusammen mit meinen vierbeinigen Freunden wohnte ich in einem grossen Offenstall mit 24 Stunden Heu und riesigen angrenzenden Weiden die mir immer offen standen. Ich lebte im Pferdeparadies. Für mich als Shetty barg dieses Schlaraffenland die grosse Gefahr des Überfressens und genau dieser bin ich erlegen. Irgendwann haben meine Füsse begonnen zu schmerzen. Immer mehr und mehr. So sehr, bis ich nicht mehr gehen konnte. Meine Schmerzen waren so gross, dass ich meinen Freunden nicht mehr auf die Weide folgte und alleine im Stall zurück blieb. Aber auch hier ging es mir nicht besser. Der Boden war zu hart um darauf zu stehen. Später fand ich dies auch im weichen Stroh unerträglich. Alle meine Muskeln verkrampften. Ich konnte vor lauter Schmerzen nicht mehr Fressen. Mein Bauch tat mir weh. Ich war bewegungsunfähig. Ich schaffte es nicht mehr zum Heu hinzugelangen. Auch die Tränke rückte für mich in unerreichbare Weite. Ich dachte ich müsse sterben. Der Tod stand an meinem Strohbett. Ich habe ihn genau gesehen.
Bitte entschuldige, ich greife etwas vor. In meiner schmerzhaften Erinnerung spielt die Zeit für mich keine Rolle mehr. In diesem Erleben überschlugen sich dann die Ereignisse.
Ich stand wieder einmal ganz alleine im Stall, meine Pferdefreunde genossen das frische Gras auf der Weide, als ganz viele fremde Frauen zusammen mit dem Mann, der mir mein Futter brachte, und der Frau, die mich in den letzten Tagen immer wieder besuchte und mich etwas massierte, zu mir kamen. Eine, sie heisst Linda, sah sich meine Hufe sehr genau an. Sie alle diskutierten äusserst intensiv miteinander. Ich erinnere mich nur noch Bruchstückhaft an dieses Zusammentreffen. Mir war in dem Moment alles egal. Ich lebte im Schmerz, hatte resigniert.
Noch mehr alleine gelassen fühlte ich mich, als sie alle weg gingen. Etwas später jedoch fuhr ein Auto auf den Hof. Die Frau mit den warmen Händen kam zurück. Wieder massierte sie meine schmerzenden Muskeln. Sie berichtete mir, dass die Frauen von vorhin beschlossen hätten mich in eine Klinik zu bringen damit mir meine Schmerzen genommen würden. Auch erzählte sie mir von einer Frau die sich unglücklich in eine Shettydame verliebt habe und nun sehr traurig sei weil sie nicht zusammenfinden könnten. Kurz darauf, es war gerade am eindunkeln, fuhr diese Frau vor.
Simone. Ich habe sie noch nie gesehen. Und dennoch ging mit ihr für mich in diesem Moment die Sonne auf. Sie kam auf mich zu und setzte sich etwa drei Meter vor mir auf den Boden. Magisch angezogen musste ich zu ihr. Es tat so weh. Aber ich musste zu ihr. Nah zu ihr. Ganz ganz nah. Und da war es. Dieses Gefühl. Es war heimkommen. Ankommen. Wunderbar erfüllend. Nase an Stirn. Salzig schmeckten Simones Tränen die ihr vor Glück, Rührung und Ergriffenheit übers Gesicht kullerten. Wir haben uns eingeatmet. Unsere Herzen haben im Gleichtakt geschlagen und unsere Seelen haben sich gefunden.
In den beiden folgenden Tagen kam die Frau mit den warmen Händen immer wieder. Sie brachte mir Wasser ans Strohbett und auch Heu damit ich nicht nur das plattgelegene Stroh fressen musste. Auch gab sie mir Mittel gegen die Schmerzen, und massiert mich ganz sanft. Am dritten Tag packte sie mir alle vier Füsse in Watte polstert die Sohle ganz dick. Sie wollte, dass ich mit ihr aus dem Stall zum Pferdeanhänger gehe. Anfangs befürchtete ich, dass ich nicht laufen könne – aber die Frau mit den warmen Händen sprach mir Mut zu und es ging! Langsam und behutsam stakste ich mit ihr zum bereitstehenden Pferdehänger. Sie hat ihn für meine Grösse ausgerichtet und weich ausgepolstert. So gestützt fuhr ich sehr lange. Als sich die Lucke öffnete sah ich Linda wieder. Und ich lernte Eva kennen.
Die beiden empfingen mich auf ihrer Station für Hufkranke Pferde ganz herzlich. Ich bezog eine grosse Boxe, bekam frisches herrlich duftendes Heu und sauberes Wasser. Rundherum standen andere Ponys und Pferde. Und allen taten, wie mir, die Füsse weh. Linda und Eva kümmerten sich rührend um mich. Professionell und dennoch herzlich. Auch der Arzt der zum Röntgen kam war sehr nett. Sie sagten ich habe eine ganz starke Hufrehe auf allen vier Füssen. 19 Grad haben meine Hufbeine rotiert! So bekamen meine Schmerzen einen Namen. Linda und Eva arbeiteten ganz viel an meinen Hufen. Sie haben die Zehen gekürzt, rundherum geraffelt und immer wieder gefeilt.
Es tat immer noch weh. Aber die beiden wollten, dass ich mich bewege. Sie sagten, ich müsse laufen damit ich gesund werde. Darum brachten sie mich zu zwei anderen Shettydamen in einen grossen Paddock. Da der Boden dort nicht ganz so weich war wie in der Box durfte ich Schuhe anziehe. War das ein komisches Gefühl. Ich musste fasst ein bisschen „giggeln“ wie ich da mit solchen Gummiteilen an den Füssen rumgezockelt bin. Die WG mit den beiden Shettys war echt cool. Wir drei wurden sehr gute Freundinnen.
Neben unserem grossen Paddock war ein noch viel Grösserer. Und in diesem lebten noch viele viele andere Pferde und Ponys. Auch von ihnen hatten etliche Schuhe an. Einige bewegten sich, wie ich, sehr vorsichtig, anderen schien es schon weit besser zu gehen und sie foppten sich und rannten herum. Irgendwann kam der Tag, an dem meine beiden Freundinnen nach Hause entlassen wurden. Und das war auch der Tag, an dem ich in die grosse Herde wechseln durfte. Ich fand sehr schnell neue Freunde. Irgendwie habe ich immer wie mehr vergessen, dass und wie meine Füsse schmerzten. Ich bewegte mich zusehends mehr. Bald durfte ich ohne Schuhe losziehen. Anfänglich dachte ich, dass das doch nicht gehe, aber es hat funktioniert! Und wie es funktioniert hat. Wow, war das ein gutes Gefühl!
Der Herbst kam, der Winter brachte Schnee und Kälte, die Sonne wärmte uns im Frühling und es ging mir immer besser. In all dieser Zeit bekam ich immer wieder Besuch von Simone. Anfänglich, als ich noch starke Schmerzen hatte, kam sie vorbei um mich zu putzen und zu herzen. Wir haben uns einfach genossen. Stundenlang sass sie bei mir und war einfach da. Später unternahmen wir erste kleine Spaziergänge. Das war echt cool mit ihr! Sie war sehr darauf bedacht, dass ich nirgends Schmerzen hatte und führte mich immer auf weichem Boden. Sie lachte wenn ich mich vor lauter Übermut vergass und Kapriolen machte. Mit der Zeit unternahmen wir längere Ausflüge und erkundeten die Umgebung. Wir waren im Wald. Simone liess mich über Wurzeln springen, kletterte mit mir über Baumstrünke, lief mit mir Slaloms zwischen den Bäumen und durchquerte mit mir eine riesen grosse Kuhherde. Mit ihr war das alles toll, aufregend und einfach herrrrrrrrlich! Ich hatte so viel Energie, dass ich fast explodierte. Damit ich mich so richtig austoben konnte, nahm Simone die Longe mit. Überschäumend sauste ich Runde um Runde um sie herum. Solange bis Simone sturm war weil sie sich mit mir im Kreis drehte.
Im Frühling sprachen Simone und Linda dann darüber, dass es bald Zeit würde und ich nach Hause dürfe. Von Simone erfuhr ich, dass ich nicht mehr in den grossen Stall zurück gehe wo wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Sie meinte dass ich dort bald wieder in der gleichen Situation sein würde. Und diese Schmerzen will ich nie nie mehr erleben. Wo aber würde denn mein Zuhause sein? Simone erzählt mir, dass eine ganz tolle liebe Tinkerstute bei ihr in einer riesengrossen Auslaufboxe wohne und dass dort auch Platz für mich sei. Zusammen mit Laluna und mit deren drei Freunden dürfe ich dann täglich für zwei Stunden auf die Weide. Zum toben sei die ganze Truppe auf dem grossen Sandplatz. Und da dürfe ich auch mitmischeln! Cool! Beides kann ich super! Fressen und sausen!
Aber schon wieder greife ich vor. Ich bin ja immer noch hier in Bösingen bei Linda und Eva. Es ist Mai. Ich darf zusammen mit meinen Freunden auf die Weide. Nur kurz. Aber das Gras schmeckt soooooo toll! Und ich darf nur so kurz raus. Und ich bin ein Pony. Ein Shetty. Ein erfinderischer Shetty. Also büxe ich immer wieder aus um mich am frischen Grün genüsslich zu tun. Nur finden Linda und Eva das gar nicht toll. Sie sagen ich müsse kontrolliert weiden damit ich nicht wieder schmerzende Füsse bekommen. Aber irgendwie habe ich bereits vergessen wie es mal war. Ich sehe nur Grün. Jeder einzelne Halm auf der anderen Seite des Zauns winkt und ruft mir zu „hier bin ich – ich wachse nur um von dir gefressen zu werden“. Wie kann ich da widerstehen??? Geht nicht! Ich bin schliesslich ein Shetty. Mit den Tagen verlängern Linda und Eva unsere Weidezeit. Aber auch dies finde ich viel zu kurz. Zusammen mit meiner Freundin mache ich mir ein Spiel daraus Jeannette zu ärgern wenn sie uns von der Weide holen sollte. Also, eigentlich wollen wir sie ja gar nicht wirklich ärgern, nur halt noch etwas länger fressen. Darum sausen wir immer in die entgegengesetzte Ecke wenn sie kommt. Das Spiel lohnt sich - bis sie uns eingefangen hat, haben wir etliche Mäuler voll mehr gefressen als wenn wir brav mit den Anderen auf Pfiff reingegangen wären.
Und jetzt ist es schon soweit. Simone und Laluna kommen mich abholen! Ich freue mich riesig darauf. Simone hat eine ganz tolle Idee! Sie sagt nämlich, „WIR MACHEN UNS AUF - IN DEIN NEUES LEBEN“. Und das geht am besten zu Fuss. Aber das ist ein weiter Weg. Simone sagt, dass wir drei von Bösingen in Fribourg nach Weissenbach im Aargau wandern. Dazu hat sie ganz lange geplant. Aber davon wird sie euch selber berichten. Ich freu mich jetzt einfach darauf meine neue Freundin Laluna persönlich kennen zu lernen und mit ihr und meiner Simone in ein neues Leben zu marschieren!
Magst du uns begleiten? Also los. Auf geht’s!
(vielen herzlichen Dank an unsere liebe Freundin Tamara Grab, die Frau mit den warmen Händen, die diesen Text so wunderbar für mich verfasst hat. www.pferde-mensch.ch)
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